Großvater
2013/14
In meiner Familie hielt man große Stücke darauf, eine Intellektuellenfamilie zu sein. Meine Geschwister und ich wuchsen auf in dem Bewusstsein einer besonderen Sippschaft anzugehören. Als Fünfjähriger machte ich mir Sorgen, mein Berufswunsch könne nicht standesgemäß sein. Ich erkundigte mich bei meiner Mutter, ob die Möglichkeit bestehe, als "ein Schieder" auch Bäcker zu werden. Die Frage sorgte für allgemeine Heiterkeit.
Prominenter Kopf der Familie Schieder war mein Großvater, der Historiker Theodor Schieder. Auf ihn war man besonders stolz. Dekoriert mit Bundesverdienstkreuz und Orden Pour le Mérite, Rektor der Universität zu Köln 1962 bis 1964, Herausgeber der Historischen Zeitschrift, verantwortlich für den historischen Teil der Diplomatenausbildung im Auswärtigen Amt und dergleichen mehr war mein Großvater das leuchtende Beispiel dafür, was aus einem Schieder werden konnte. Diesem Vorbild folgend wurden auch mein Vater und meine beiden Onkel Hochschulprofessoren.
Auch in der Schule wurde man von manchen Lehrern als Teil einer besonderen Spezies betrachtet. Das Gymnasium, welches mein Bruder und ich in Köln besuchten, hatten schon mein Vater und meine Onkel besucht. Ungeniert wurde man im Unterricht gefragt, ob man etwa mit besagtem Theodor Schieder verwandt sei. Dass man das war, war in der Regel nicht von Vorteil. Viele Lehrer gingen ganz grundsätzlich davon aus, dass man mit so einem Großvater und dieser Familie erstklassige Leistungen zu bieten haben müsse. Zum 150sten Jubiläum ebendieser Schule hielt mein Großvater die Festrede.
Mit Kindern hatte mein Großvater nicht allzu viel am Hut. Nicht, dass er kein liebender Großvater gewesen wäre, er konnte schon sehr charmant mit uns Enkelkindern sein. Er bevorzugte aber seine Arbeit und den Austausch mit Erwachsenen. Als er 1984 starb – ich war sechzehn – hatte ich so etwas wie eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihm nie geführt.
Seine Karriere vor 1945 war in der Familie nie thematisiert worden. Nur mein älterer Onkel stellte seinem Vater Fragen und galt deshalb wohl auch als das schwarze Schaf der Familie. Antworten erhielt er nie mit der Begründung, er sei ja nicht dabei gewesen. Auch seine Studenten ließ mein Großvater wissen, dass er nicht die Absicht hatte, sich Fragen stellen zu lassen.
Beim 150. Historikertag, knapp vierzehn Jahre nach seinem Tod, begann dann eine breite Debatte um seine Rolle zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Debatte schaffte es bis in die Feuilletons der großen Tageszeitungen. Dieses Datum stellte auch für mich einen Paradigmenwechsel dar. Wurde ich vorher gelegentlich fast ehrfürchtig auf Theodor Schieder angesprochen, so war es jetzt oft das Interesse an seiner Rolle im Dritten Reich. Ich konnte dazu nicht viel sagen und mir stand der Kopf zu dieser Zeit auch nach anderen Dingen, als mich mit meinem Großvater zu beschäftigen.
Mit fortschreitendem Alter aber fragt man sich dann doch des Öfteren, warum man ist, wie man ist und warum Geschwister, Cousinen und Cousins, warum wir alle so geworden sind wie wir sind – jeder anders auf seine Art und Weise, aber doch geprägt durch diese Familie und ihre Geschichte, durch die in uns gepflanzten Erwartungen und die Erwartungen an uns selbst, durch Ausgesprochenes und Unausgesprochenes.
Und man fragt sich, was für Menschen das sind, die einen geprägt haben, warum diese so geworden sind wie sie waren. Hätte man sich an ihrer Stelle anders verhalten? Kann, darf man aus dieser rückblickenden Position überhaupt ein abschließendes Urteil über sie fällen?
Mein Großvater war in den 20ern und 30ern ein glühender Nationalist. Das war damals nichts Ungewöhnliches. Die Ergebnisse des Versailler Vertrages wurden allgemein als Schmach und Unrecht empfunden. Als Historiker spezialisierte er sich auf die sogenannte Ostforschung. Diese suchte, analog zu Polnisches Westforschung, unter anderem Gebietsansprüche Deutschlands in Mittelosteuropa wissenschaftlich zu untermauern.
Bis in die Mitte der 30er zählte er sich selbst noch zu den Nationalkonservativen. 1937 trat er dann aber in die NSDAP ein, wohl auch aus Opportunismus, wurde doch die seit 1933 geltende Mitglieder-Aufnahmesperre für bestimmte Personengruppen wie der seinen gelockert und versprach eine Mitgliedschaft berufliche Vorteile.
Zu seinen unrühmlichsten Aktivitäten dieser Zeit gehört die Beihilfe bei der Plünderung Polnischer Archive, die nach heutigem Kenntnisstand zur Identifikation der Jüdischen Bevölkerung beigetragen hat und die Mitarbeit an der sogenannten „Polendenkschrift“, die sich nach dem Überfall auf Polen mit Gedanken beschäftigt, was mit den eroberten Gebieten anzufangen sei. 1943 dann wurde er zum ordentlichen Professor für Geschichte an der Universität Königsberg ernannt.
1944/45 floh mein Großvater samt Familie ins Allgäu. Zwei Jahre suchte er vergeblich eine neue Anstellung als Professor. 1947 dann, nach erfolgreicher Entnazifizierung, wurde er an den Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Köln berufen, wo er bis zu seinem Tod lebte.